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Zu Gast in der Zelle

 

Pünktlich um viertel nach zehn klopfe ich an der Zellentür. Ein lautes Herein ertönt, ich werde erwartet. Erwartet von einem Gefangenen, der im vergangenen Sommer seinen 85. Geburtstag feierte und schon länger inhaftiert ist als ich alt bin. Er freut sich sehr, wenn ich ihn montags besuche und bei ihm einen Kaffee trinke und auch Kekse mit ihm esse. Etwa eine dreiviertel Stunde nehme ich mir Zeit für ihn, höre ihm zu und bin sein Gast. Und dass er umgekehrt mein Gastgeber sein kann, das tut ihm gut, das spüre ich deutlich. Mit viel Sorgfalt deckt er den Tisch, trotz der beschränkten Möglichkeiten, die im Gefängnis herrschen. Mein Teller ist beispielsweise der gespülte Deckel einer Quarkpackung. Aber das macht überhaupt nichts. Wichtig ist, dass ich jetzt da bin. Da für ihn, den sonst kaum einer besucht. Für ihn, der im Knast alt und einsam geworden ist. Und wenn wir miteinander reden, dann leuchten seine Augen. Dann tritt er für einige Momente aus der Zelle hinaus ins Freie, in die Freiheit, in das, was für uns normal ist. Zumindest solange, bis ich die Zellentür wieder von außen abschließen muss.